Sonntag, November 12, 2006

/single shot: In jeder klaren Nacht

Und dann lächeln sie dich an, die Sterne, mit geblichen, lückenhaften Zähnen, mehr ein schales Grinsen. Der kalte Wind scheint dir wie ihr Atem, ein wenig grausam und ohne Mitgefühl.
Sie und du, ihr seid aus demselben Grund hier.
Entscheidungen sind es, die dich hierher und sie dorthin geführt haben, Entscheidungen.
Entscheidungen?
Du denkst noch einmal darüber nach und erwiderst dieses Grinsen am Himmel, nein, keine Entscheidungen.
Entscheidungen erfordern Alternativen, Alternativen fordern Auswege, und Auswege gibt es nie.
Kein Teil von dir hat gewählt, hier zu sein und nicht dort, kein kleinstes bisschen dessen, was du Ich nennst.
Und kein Bruchstück dieser fernen Sterne hat gewählt, dort zu sein und nicht hier; Atome kennen keinen Willen, kennen nur die totalen Regeln der Natur.
Seinen Weg zu wählen bleibt eine Illusion, ein Trugbild, das nicht vor diesem kalten Wind und dem Blick zum Himmel schützen konnte.
Deshalb bleibt das Warum leer, bleibt bloßer Zufall. Da ist keine Verbindung zwischen euch, nur blinde Ähnlichkeit; du bist eine Struktur, durch die Materie fließt, bis sie schließlich von der Zeit eingeholt wird. Auch sie sind solche Strukturen, auch sie warten nur auf ihre Zeit. Ihr Grinsen erzählt von ihrer Einsamkeit, von der großen Leere zwischen den Sternen. Dein Grinsen erzählt von deiner Einsamkeit, von der Leere zwischen den Gedanken.
Doch niemand von euch kann oder will trösten, ihr könnt und wollt euch nicht einfach in dem Arm nehmen. Ihr seid Fremde, zufällig dem gleichen Weg ohne Ziel unterworfen, und weder du noch sie wollen mehr Schwäche zeigen als eben dieses falsche Grinsen.
Du wünscht dir vielleicht eine sternenlose Nacht, kalt und leer wie die Straße, auf der du stehst, damit du nicht nach oben schauen musst. Damit das Grinsen verschwindet, damit du die einzig vergrämte Seele in der Welt sein kannst.
Du bist sicher; in der Ferne denken sie genauso.
Aber der Zufall hat es anders gewollt; du schaust hoch - sie schauen herab.
Die gleiche Frage quält euch, die nach dem Warum, dem Warum ich, dem Warum ich allein. Niemandem könnt ihr sie stellen, denn neben euch ist da nur das Nichts zwischen Sternen und Gedanken.
Du und die Sterne, ihr erkennt in jeder klaren Nacht aufs Neue;
Nur Koinzidenz lässt dich hier sein.
Nur Koinzidenz lässt sie in der Ferne leuchten.
Und so bleibt nur eins zu sagen;
Sie bleiben allein dort oben, du bleibst allein hier unten.
Sie grinsen schal herab -
Und du erwiderst diesen Blick, bevor du weitergehst.


"They cannot scare with their empty spaces
Between stars - on stars where no human race is.
I have it in me so much nearer home
To scare myself with my own desert places." - Robert Frost, Desert Places.